John Neumeier
Nahezu jährliche Gastspiele John Neumeiers mit dem Hamburg Ballett mündeten 2021 in eine Phase noch engerer Zusammenarbeit mit dem Festspielhaus Baden-Baden, aus der im Jahr darauf das von John Neumeier kuratierte Tanzfestival „The World of John Neumeier“ hervorging. Mit diesem Festival geht John Neumeier in Baden-Baden in die Zukunft, auch nach seinem Abschied vom Hamburg Ballett. In 51 Spielzeiten wirkte er dort bis August 2024 als Ballettdirektor, Chefchoreograf und seit 1996 auch als Ballettintendant. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Hamburg Ballett zu einer der führenden deutschen Ballettcompagnien mit hoher internationaler Ausstrahlung. Über 170 Ballette schuf John Neumeier in seiner Hamburger Zeit, zahlreiche Ballette wurden aufgezeichnet und als DVD veröffentlicht.
Nach erstem Ballettunterricht in seiner amerikanischen Heimatstadt Milwaukee vertiefte John Neumeier seine Ausbildung in Kopenhagen und an der Royal Ballet School in London. An der Marquette University in Milwaukee machte er seinen Bachelor of Arts in Englischer Literatur und Theaterwissenschaften. 1963 engagierte ihn John Cranko ans Stuttgarter Ballett, wo er zum Solisten avancierte und erste Choreografien schuf. 1969 berief ihn Ulrich Erfurth als Ballettdirektor nach Frankfurt am Main, 1973 holte ihn Staatsopernintendant August Everding nach Hamburg. Ein wesentliches künstlerisches Ziel John Neumeiers besteht darin, zeitgenössische Formen für das abendfüllende Ballett zu finden und sie in den Kontext der klassischen Ballett-Tradition zu stellen. Ihr fühlt er sich bei seinen Neufassungen der historischen Handlungs- und Märchenballette besonders verpflichtet, etwa in seinen Versionen von „Der Nussknacker“ und „Dornröschen“, in „Illusionen – wie Schwanensee“ und der für die Pariser Oper geschaffenen „Sylvia“. In seinen Neuschöpfungen sucht Neumeier eigene Erzählstrukturen: in der „Artus-Sage“ und den zahlreichen Shakespeare-Balletten, in den für Marcia Haydée geschaffenen Literaturballetten „Die Kameliendame“ und „Endstation Sehnsucht“ sowie in seinen Adaptionen von Ibsens „Peer Gynt“, Homers „Odyssee“, Tschechows „Die Möwe“ und Andersens „Die kleine Meerjungfrau“. 2003 schuf er „Tod in Venedig“ nach Thomas Mann, erste Aufführungen fanden im Festspielhaus Baden-Baden statt. 2006 kreierte er „Parzival – Episoden und Echo“ nach Chrétien de Troyes und Wolfram von Eschenbach. Im Jahr 2000 feierte John Neumeier Erfolge mit seiner Neufassung von „Giselle“ und mit „ Nijinsky“, einer sehr persönlichen choreografischen Auseinandersetzung mit dem legendären Tänzer und Choreografen. 2001 entstand sein Ballett zu Schuberts „Winterreise“ in Hans Zenders Orchesterfassung. Im Sommer 2003 fand die Uraufführung von „Préludes CV“ in Zusammenarbeit mit der Komponistin Lera Auerbach statt, die auch die Musik für „Die kleine Meerjungfrau“ (2005) und „Tatjana“ (2014) schrieb. 2009 setzte er sich in „Le Pavillon d’Armide“ neuerlich mit Nijinsky auseinander. Im selben Jahr feierte sein Ballett „Orpheus“ Premiere – mit dem ursprünglich für die Titelrolle vorgesehenen Roberto Bolle war es 2011 im Festspielhaus Baden- Baden zum ersten Mal zu sehen.
2024 nahm John Neumeier mit „Epilog“ Abschied von der Leitung des Hamburg Ballett. Weitere Hamburger Kreationen der jüngeren Vergangenheit waren „Dona Nobis Pacem“ (2022), „Hamlet 21“ (2021), „Beethoven- Projekt II“ (2021), „Ghost Light“ (2020), „Die Glasmenagerie“ (2019), „ Beethoven-Projekt I“ (2018), „Anna Karenina“ (2017), „Turangalîla“ (2016), „Duse“ (2015) und Mahlers „Das Lied von der Erde“, das nach der Uraufführung an der Pariser Oper 2016 als Neufassung in Hamburg zu sehen war. John Neumeiers Choreografien mit den Sinfonien von Mahler fanden weltweite Anerkennung. Zu seinen Schlüsselwerken mit sakraler Musik zählen neben „Dona Nobis Pacem“, dem die h-Moll-Messe zugrunde liegt, weitere Ballette zu Musik Johann Sebastian Bachs wie „Matthäus-Passion“ (1981) und „Weihnachtsoratorium I–VI“ (2013), außerdem Mozarts „Requiem“ (1991) und Händels „Messias“ (1999).
Ein weiterer künstlerischer Schwerpunkt in John Neumeiers Schaffen ist die Auseinandersetzung mit dem Musical – er inszenierte Leonard Bernsteins „West Side Story“ und „On the Town“ – und die Entwicklung einer rhapsodischen Form, der Ballettrevue, beispielsweise in „Shall we dance?“ und „Bernstein Dances“. Nach Verdis „Otello“ an der Bayerischen Staatsoper und Glucks „Orpheus und Eurydike“ an der Hamburgischen Staatsoper hatte als weitere Opernregie John Neumeiers im Jahr 2017 Glucks „Orphée et Eurydice“ Premiere. Zuerst war die Inszenierung in Chicago und Los Angeles zu sehen, im Februar 2019 feierte sie in Hamburg Premiere und kam im selben Jahr nach Baden-Baden.
Gleich in seiner ersten Hamburger Spielzeit 1973 begründete John Neumeier die „Ballett-Werkstatt“, die Einblicke in die kreative Arbeit der Compagnie eröffnet. Seit 1975 stehen die Hamburger Ballett-Tage am Schluss jeder Saison. Sie münden in die Nijinsky-Gala, die einem tanzspezifischen oder balletthistorischen Thema gewidmet ist. 1978 gründete John Neumeier die Ballettschule des Hamburg Ballett, die im Herbst 1989 mit der Compagnie in ein von der Stadt Hamburg eingerichtetes Ballettzentrum zog. 2011 gründete er das Bundesjugendballett.
Als Gastchoreograf hat John Neumeier unter anderem für das American Ballet Theatre in New York gearbeitet, für das Tokyo Ballet, das Ballet de l’Opéra de Paris, die Ballettcompagnien der Staatsopern in Wien, München und Dresden, für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das Ballett der Deutschen Oper Berlin, das Stuttgarter Ballett, das Königlich Dänische Ballett, das Königlich Schwedische Ballett, das Finnische Nationalballett, das Ballet du XXe Siècle in Brüssel, das Royal Winnipeg Ballet, das National Ballet of Canada, das Ballet du Grand Théâtre de Genève, das San Francisco Ballet und das Australian Ballet. Für das Royal Ballet in London kreierte er 1999 „Lento“ zur Wiedereröffnung des Opernhauses Covent Garden. 2001 kreierte er als erster westlicher Choreograf seit rund hundert Jahren ein Ballett für das Mariinsky-Theater in St. Petersburg: „Sounds of Empty Pages“, dem Komponisten Alfred Schnittke gewidmet. 2005 eröffnete er mit der Uraufführung von „Die kleine Meerjungfrau“ das neue Opernhaus in Kopenhagen. 2017 feierte sein Ballett „Songs and Dances of the Earth“ Premiere beim National Ballet of China. „Anna Karenina“, das beim Festspielhaus-Gastspiel 2018 zum ersten Mal mit dem Hamburg Ballett auf Tournee zu sehen war, wurde vom Bolschoi Ballett und dem National Ballet of Canada übernommen. 1984 choreografierte Maurice Béjart für John Neumeier und Marcia Haydée „Les Chaises“ nach Ionesco – ein Stück, das auf zahlreichen Tourneen weltweit gezeigt wurde.
In „Ghost Light“ erhob John Neumeier 2020 mit dem Hamburg Ballett die Auflagen der Pandemie zum Formprinzip eines Tanz-Kunstwerks. Kritiker wählten „Ghost Light“, das auch im Festspielhaus Baden-Baden zu sehen war, in der Umfrage der renommierten Zeitschrift „tanz“ zur „Produktion des Jahres“. Für sein Lebenswerk wurde John Neumeier international mit höchsten Auszeichnungen geehrt: in Deutschland mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Orden „Pour le Mérite“, in Frankreich mit der Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion, in Japan mit dem Kyoto-Preis. 2021 verlieh ihm Königin Margarethe von Dänemark die Medaille „Ingenio et arti“. John Neumeier ist Kuratoriumsvorsitzender der „Stiftung Tanz“.