23.02.24

Aufs Ganze gehen

Wagner, Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker

Dass die Berliner Philharmoniker auch ein phänomenales Opernorchester sind, beweisen sie jahrein, jahraus bei den Osterfestspielen in Baden-Baden. Auch in der Philharmonie Berlin ist immer wieder das Musiktheater zu Hause: Opern konzertant oder in halbszenischer Einrichtung zu spielen, ist eine lang geübte Gepflogenheit, die mit Kirill Petrenko noch ausgebaut wird – hat sich doch der derzeitige künstlerische Leiter in seiner bisherigen Laufbahn als einer der führenden Operndirigenten unserer Zeit erwiesen. Und er weiß, wozu die Philharmoniker fähig sind: „Mit diesem Orchester kann man alles erreichen. Es gibt überhaupt nichts, was die nicht können oder wollen.“

In den Silvesterkonzerten 2023/24 präsentierten die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent zwei große Auszüge aus Musikdramen von Richard Wagner, die sie zu den Osterfestspielen 2024 nach Baden-Baden mitbringen: Die Ouvertüre und das Venusberg-Bacchanal aus „Tannhäuser“ und den gesamten ersten Aufzug aus „Die Walküre“. Eigentlich sind beides fast eigenständige Werke: Sowohl der „Tannhäuser“-Ausschnitt als auch der „Walküre“-Akt können wie wenige Opernmusiken als in sich abgeschlossene Stücke für sich stehen.

Das „Tannhäuser“-Bacchanal entstand aus einer Riesenchance für Wagner: In der Saison 1860/61 sollte die Oper in Paris aufgeführt werden – in Europas Musik-und Opernmetropole. In ebendieser Stadt hatte er ziemlich genau 20 Jahre vorher schon einmal längere Zeit verbracht. Unter armseligen Bedingungen versuchte er damals, seine Frau Minna und sich mit Brotarbeiten wie dem Erstellen von Klavierauszügen der Werke anderer Komponisten
durchzubringen. Das elende Leben in der fremdsprachigen Hauptstadt unter Schulden und Hunger hatte in ihm eine besondere Begeisterung für die deutsche Sagenwelt geweckt. So begann er, sich mit Tannhäuser und dem Wartburgkreis zu beschäftigen. Die Oper über die mittelalterlichen Minnesänger nahm schnell Gestalt an. Als Wagner 1842 nach Dresden zurückkehrte, reiste er an der Wartburg vorbei: „Einen seitab von ihr gelegenen ferneren Bergrücken stempelte ich sogleich zum ,Hörselberg‘ und konstruierte mir so, in dem Tal dahinfahrend, die Szene zum dritten Akt meines ,Tannhäusers‘ […]“

Mit der Uraufführung in Dresden 1845 war die Arbeit allerdings noch nicht beendet: Nun fing die jahrzehntelange Überarbeitungsgeschichte dieser Oper an. Die „Pariser Fassung“ war auch nur ein Zwischenschritt. Noch kurz vor seinem Tod soll Wagner gesagt haben, er sei „der Welt noch den Tannhäuser schuldig“. Eine Inszenierung an der Pariser Grand Opéra jedenfalls bedeutete, dass Wagner eine neue Szene mit Tanz schreiben musste – denn ohne Ballett war eine große Oper an diesem Theater undenkbar. Wagner fügte den Einschub nicht an der üblichen Stelle im zweiten Akt ein, sondern erweiterte stattdessen die ohnehin von Tanz und Pantomime getragene Venusberg- Szene gleich am Anfang und komponierte weite Teile des ersten Aktes neu. So entstand das, was man als „Ouvertüre und Bacchanal“ bezeichnet.

Beginnend wie die ursprüngliche Ouvertüre mit dem Pilgerchor-Thema in den Bläsern, weitet sich das Stück zu einem großformatigen Tongemälde und verwandelt sich geradezu in eine sinfonische Dichtung mit offenem Schluss: Durch die christlich grundierte Hymne am Anfang einerseits und die hierauf folgende flimmernde, glitzernde, glühende Schilderung der verführerischen Reize im Venusberg andererseits werden die zwei gegensätzlichen Sphären des Werkes etabliert. Die anderthalb Jahrzehnte zwischen Dresden und Paris waren nicht spurlos an Wagners Musiksprache vorübergegangen, und so lugt hier zwischen den Najaden- und Nymphenspielen ein anderes großes Liebespaar hervor: Tristans und Isoldes Harmonien spuken in den orgiastischen Auf-und Abschwüngen der Bacchantinnen umher. Dass die Pariser Premiere für Wagner in einem Debakel endete, in einem von Claqueuren befeuerten, wenn nicht gar inszenierten Skandal, hat dem Werk auf Dauer nicht geschadet. Die „Tannhäuser“-Neufassung, insbesondere ihr Anfang, führt seither ihr eigenes Leben – im Opernhaus wie im Konzertsaal.

Auf andere Weise ist der erste Aufzug von „Die Walküre“ ein eigenständiges Drama, vergleichbar großen spätromantischen Einaktern der Operngeschichte wie etwa Alexander Zemlinskys „Der Zwerg“. Ebenso sieht es Kirill Petrenko: „Der erste Akt der ,Walküre‘ ist zwar Teil eines großen Werkes, aber funktioniert für sich als Herzstück ganz ausgezeichnet, weil es fast eine in sich geschlossene Geschichte ist, eine Dreiecksgeschichte, die im ersten Akt beinahe schon zu Ende erzählt wird.“ Die Begegnung von Siegmund und Sieglinde im Hause Hundings ist in ihrer großen Erregungskurve so packend dargestellt, dass man fast vergessen kann, was sich alles vorher und nachher noch abspielt. Mit der „Walküre“ beginnt die eigentliche Handlung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“. Nun entfaltet sich der Plan, den Wotan am Schluss von „Das Rheingold“, „wie von einem großen Gedanken ergriffen“, gefasst hatte: das Unrecht, das er selbst mit in die Welt gesetzt hat, aus ihr wieder zu entfernen. Der Raub des Rheingolds muss rückgängig, der macht- und unheilbringende Ring, den der Nibelung Alberich sich aus dem Rheingold geschmiedet hat, unschädlich gemacht werden. Wotan selbst darf es nicht tun, ihn binden Verträge, denn er hat mit dem ganzen Hort die Riesen Fafner und Fasolt bezahlt. Auch der Ring ist in Fafners Besitz – der Riese hat dafür seinen Bruder Fasolt ermordet. Was er mit dem Schatz vorhat, ist unklar. Noch kann niemand wissen, dass Fafner keinen Nutzen daraus zieht, keine Zinsen aus dem Kapital schlägt, sondern sich einfach draufsetzt und einschläft.

Ein freier Held soll vollbringen, was Wotan verwehrt ist. Dazu hat er mit einer Menschenfrau das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde gezeugt, die Wälsungen. Außerdem hat Erda ihm Brünnhilde geboren, die als Walküre mit acht Halbschwestern gefallene Helden sammelt, um ein Heer für die letzte Schlacht aufzubauen. Ein Sturm tobt zu Beginn der „Walküre“. Wie Wagner in diesen Anfangstakten mit den Mitteln des Orchesters das Gewitter malt, gehört zu den großen Naturschilderungen der klassischen Musik: die Welt in Aufruhr, das Wüten der Elemente als Vorbote grundstürzender Veränderungen. Neben den drei Gesangspartien – Siegmund, Sieglinde und Hunding – bildet das Orchester eine eigene Erzählstimme. Noch ehe das erste Wort gesungen ist, kann man hören, wie Überzeugungen aufeinanderprallen. Es gärt und brodelt überall: Sippen, Selbstverteidigung, kriegsähnliche Zustände. Ein Mann ohne Namen, waffenlos und verletzt, wird aufgenommen in einem Haus und von der Hausfrau versorgt. Der bald heimkehrende Hausherr Hunding aber erweist sich als sein Gegner, das Gastrecht gewährt Schutz nur bis zum Morgen. Der Flüchtling hofft auf Hilfe und erinnert sich an eine alte Prophezeiung: „Ein Schwert verhieß mir der Vater, ich fänd’ es in höchster Not.“ Die Frau betäubt ihren Ehemann mit einem Schlaftrunk und zeigt dem Gast das Schwert, das ein fremder Greis an dem Tag, als sie gegen ihren Willen verheiratet wurde, in den Eschenstamm gestoßen hat. Sie ahnt, dass endlich derjenige erschienen ist, dem die Waffe zugedacht war. In beiden wächst das Gefühl, füreinander bestimmt zu sein. Immer mehr fällt ihnen ihre Ähnlichkeit auf. Die Frau erkennt im Mann ihren Zwillingsbruder und gibt ihm einen Namen: Siegmund. Er zieht das Schwert aus dem Stamm und nennt es „Nothung“. Jetzt offenbart sich die Frau: Sie ist Sieglinde, Siegmunds Schwester. Als Kinder waren sie voneinander getrennt worden, als Liebespaar umfangen sie sich nun. „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ – was jetzt noch um sie herum ist, versinkt in Bedeutungslosigkeit.

Mit beiden Werken, „Tannhäuser“ und„Walküre“, verbindet die Berliner Philharmoniker und ihre Chefdirigenten eine lange Geschichte. Für Kirill Petrenko spielt das Schaffen Richard Wagners seit Beginn seiner Laufbahn eine wesentliche Rolle, wenige Komponisten liegen ihm als Operndirigenten so am Herzen. Schon seine erste Verpflichtung in leitender Position, von 1999 bis 2002 am Meininger Theater, hing mit Wagner zusammen. Die dortige Intendantin Christine Mielitz hatte Großes, ja nie Dagewesenes vor: Sie wollte den ganzen „Ring des Nibelungen“ an vier aufeinanderfolgenden Tagen zur Premiere bringen. Dieses Kunststück hatte vor ihr nur Richard Wagner selbst angestrebt, bei der Uraufführung des Gesamtzyklus im Rahmen der ersten Festspiele von Bayreuth im Jahre 1876. Doch damals erkältete sich Franz Betz, der Darsteller des Wotan, und zwischen „Walküre“ und „Siegfried“ musste ein Pausentag eingeschoben werden. Nun, an der Wende zum 21. Jahrhundert, suchte Christine Mielitz für ihr Unterfangen einen musikalischen Chef, der wagemutig genug für dieses Husarenstück war, und fand ihn in dem jungen Kapellmeister der Wiener Volksoper. Zwei Jahre dauerten die Proben mit doppelter Sängerbesetzung und gleich zwei Orchestern. Bühnenbilder und Kostüme gestaltete der geniale Bildhauer Alfred Hrdlicka. Vier Aufführungszyklen wurden von Ostern 2001 an im Monatsabstand gespielt. Das kleine Südthüringer Theater, aus dessen Hofkapelle sich Wagner ein Drittel seines Festspielorchesters rekrutiert hatte, war wieder in aller Munde – die „Tagesschau“ berichtete und das Zweite Deutsche Fernsehen auch.

Mit dieser Tat geriet Kirill Petrenko ins Blickfeld der internationalen Musikwelt, die internationalen Debüts ließen nicht mehr lange auf sich warten. Um mit der Walküre Siegrune zu sprechen: „Arbeit gab’s“ fortan für ihn zuhauf, Wagner begleitete ihn weiterhin, in Dresden, Lyon, bei der Ruhrtriennale und natürlich mehrfach an der Bayerischen Staatsoper in München. Einen weiteren „Ring“-Zyklus hat Kirill Petrenko herausgebracht, die 2013 erstmals gezeigte Inszenierung von Frank Castorf bei den Bayreuther Festspielen, die er noch in den beiden Folgejahren dirigierte. An der Bayerischen Staatsoper hat er eine Wiederaufnahmeserie der Inszenierung von Andreas Kriegenburg geleitet.

Mit den Berliner Philharmonikern hat Kirill Petrenko ein Orchester vor sich, das Richard Wagners Musik praktisch seit den ersten Tagen seiner Existenz spielt. Beim Vorgängerensemble, der sogenannten Bilse’schen Kapelle, war Wagner sogar persönlich regelmäßig als Dirigent zu Gast. Passagen aus der „Walküre“ finden sich in den Annalen der Berliner Philharmoniker schon im zweiten Jahr ihres Bestehens, seit 1884 erklingt immer wieder die Schluss-Szene der Oper („Wotans Abschied und Feuerzauber“) und natürlich der berühmte „Walkürenritt“. Einige Male stand der erste Aufzug konzertant auf dem Programm, beispielsweise 1951 unter der musikalischen Leitung von Leo Blech, 1971 unter Herbert von Karajan und 2005 unter Simon Rattle. Selbst die Kombination aus „Tannhäuser“-Vorspiel und „Walküre“-Aufzug gab es schon, 1920 unter Karl Muck.

Wenn Oper auf dem Konzertpodium erklingt, ohne die suggestive Kraft der Szene, muss allein die Ausdruckskraft der Interpreten das Drama über die Bühne bringen. Der Dirigent Kirill Petrenko ist dafür prädestiniert. Bei den Berliner Philharmonikern kommt an solchen Abenden besonders zum Tragen, was dieses Ausnahmeorchester so auszeichnet und was ans Wesen von Musik überhaupt rührt. Denn was dieses Orchester so gut kann wie kein zweites, hat mit dem zu tun, was die Kunst der Musik kann wie keine andere: Durch etwas so Begriffsloses und Unfassbares wie klingende Töne vor dem inneren Ohr und Auge der Zuhörenden Bilder, Farben, Gestalten und Geschichten erstehen zu lassen.

von Malte Krasting