16.01.25

„Kinder schafft Neues!“

In vier Jahren vom größten Opernskandal des 20. Jahrhunderts zu 101 Vorhängen und eineinhalb Stunden Schlussapplaus

Die künstlerischen und gesellschaftlichen Wellen schlugen hoch, noch bevor sich der erste Vorhang hob. Flugblätter wurden verteilt und Unterschriften gegen die Inszenierung gesammelt, Musiker verließen den Orchestergraben, weil sie mit der avancierten Interpretation durch den Dirigenten Pierre Boulez nicht einverstanden waren. Während der Vorstellungen dann brüllten und schrien fein gekleidete Bildungsbürger wie auf dem Fußballplatz, verteilten Pamphlete und artikulierten lautstark ihre Ablehnung. Die mäzenatische „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ wollte Festspielleiter Wolfgang Wagner mit einer Millionenspende zur Absetzung der Produktion bewegen. Keine Aufführung hat die Bayreuther Festspiele und die Opernwelt im 20. Jahrhundert nachhaltiger geprägt als Patrice Chéreaus bahnbrechende Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“.

Was war passiert? Als Patrice Chéreau das epochale Werk 1976 zum hundertjährigen Jubiläum der Uraufführung in Bayreuth neu inszenierte, war es ein Affront gegen die gewachsenen Traditionen. Chéreaus Idee, das Setting des „Rings“ ins frühe Industriezeitalter zu verlegen, verlieh Wagners schillernder Mythenwelt eine ungeahnte Aktualität und entfaltete eine wuchtige Wirkung. Zusammen mit dem Bühnenbildner Richard Peduzzi entwarf Chéreau konkrete Spielorte voller realer Assoziationen: Die Rheintöchter bewohnen ein rohes Beton-Wehr, in Mimes Schmiede dominiert ein überdimensionaler Dampfhammer, die Walküren-Szene ist der Toteninsel von Arnold Böcklin nachempfunden. 

Musikalische Revolution im Orchestergraben

Aber nicht die Regie allein wirkte so verstörend und aufwühlend, auch im Orchestergraben geschah Unerhörtes mit Pierre Boulez am Pult, der sich weigerte die Wagnersche Wuchtspirale weiter zu drehen. Der französische Dirigent verlangte von den Musikern Pianissimo, Durchsichtigkeit, kammermusikalisches Zuhören und damit für viele Musiker nicht weniger als eine komplette Neudefinition des seit Jahrzehnten Gewohnten. Boulez entschiedene Pathosferne widersprach komplett den Gewohnheiten des opulenten Wagner-Ideals, ruft heute jedoch gerade wegen der klanglichen Finesse, Bewunderung hervor. Boulez wollte damit das Gleichgewicht zwischen den einzelnen dramaturgischen Momenten wieder herstellen, um so Wagners Vorstellung eines Gesamtkunstwerkes deutlich zu machen. 

Ästhetische Faszination 

Der Klang, die Bilderwucht wie auch die schauspielerische Intensität der Darsteller waren vollkommen neu auf dem grünen Hügel. Chéreau begann mit dem Text, verstand ihn als grundlegende Darstellung menschlicher emotionaler Situationen und Konflikte und übte mit den Sängern, als seien sie Schauspieler. So entstand eine Dramaturgie, die intensiv auf Bewegung, Gestik und Körperlichkeit setzte. Chéreaus Götter hatten Leben in sich, waren handelnde, agile Gestalten. Unter den Sängerstars Gwyneth Jones als Brünnhilde in der Walküre, Peter Hofmann in der Rolle des Siegmund und Donald McIntyre als Wotan im Rheingold und im Siegfried, Manfred Jung als Siegfried und Matti Salminen.

1980, nach fünf Festspielsommern wurde der „Jahrhundertring“ mit legendären 101 Vorhängen verabschiedet. Der Schlussbeifall nach der Götterdämmerung dauerte eineinhalb Stunden.

Vom Mega-Skandal zur Jahrhundert-Produktion

Kein Ring-Regisseur kommt seitdem an Chéreaus Interpretation vorbei, jede Neuproduktion wird mit ihr verglichen, und ihre zeitlose Gültigkeit steht außer Frage. Die herausragenden schauspielerischen und sängerischen Leistungen der Solisten, die Bildgewalt und der musikalische Facettenreichtum dieses innerhalb von vier Jahren vom Mega-Skandal zur legendären Vorzeigeproduktion gewordenen Jahrhundertrings sind in Brian Larges Filmaufzeichnung in enger Abstimmung mit Chéreau hervorragend dokumentiert und nach wie vor ein packendes Opernerlebnis. Auf großer Leinwand im Festspielhaus vom 23. bis 26. Januar. (23. Rheingold, dann jeden Abend ein Teil der Tetralogie).